Das Schloss Kyburg zwischen den Welten
Wie liebt Matthäus Pfau diese abendlichen Rundgänge um und durch sein Schloss. Er tut es nicht eitel, aber mit geschwellter Brust. Zu Recht. Die von ihm veranlasste, aufwändige und kostspielige Sanierung hat das mittelalterliche Schloss Kyburg vor dem mutmasslichen Verfall gerettet und in neuem Glanz wieder erstehen lassen. Das eigentliche Bijou ist aber seine stattliche Gemäldesammlung, welche im Rittersaal und den anderen Räumen des Palas endlich ein angemessenes Zuhause erhalten hat.
Eines seiner Lieblingswerke ist das kürzlich erstandene Gemälde «Der Lawinenkegel im Haslital» von Caspar Wolf. Es ergänzt seine Sammlung von Natur- und Wintergemälden, zu denen auch ein Werk von William Turner und solche von Gustave Courbet gehören. Aber sein Favorit dieses Genres ist Caspar Wolf. Er liebt dessen archaischen Darstellungen der rohen, ungezähmten Natur. Er kann sich auch heute kaum sattsehen. Im Hintergrund diese schroffen Felswände und Berggipfel, die vor düsteren Wolken in den Himmel ragen und eine imposante Komposition aus Fels, Eis und Schnee bilden. Und im Vordergrund, dieser mächtige Lawinenkegel, diese riesigen Schneemassen, durchsetzt mit Felsen und wie Zündhölzer zerbrochene Baumstämme.
Aber – Pfau stutzt. Hat sich im Bild etwas bewegt? Er macht kopfschüttelnd einen und noch einen Schritt zurück. Er wirft erneut einen Blick auf das Gemälde, nimmt den Kneifer von der Nase, haucht die Gläser von beiden Seiten an und poliert sie mit dem Einstecktüchlein seines Sakkos. Er setzt den Kneifer wieder auf und nähert sich dem Bild. Um den seltsamen Sachverhalt zu ergründen nun so, dass seine Nase beinahe das Bild berührt. Da schnellt eine mächtige, weiss behaarte Hand, ja Pranke, aus dem Bild, fasst Pfau am Hals. Dieser greift mit beiden Händen an die Tatze, versucht zu schreien, gurgelt aber nur noch ungehört und verschwindet im Bild.
Im Amtsgericht Oberhasli in Meiringen kommt Pfau wieder richtig zu sich. Durchfroren und durchnässt. Die Haare strähnig, Gesicht und Hände von Dornen und Felsen zerkratzt, das Sakko zerschlissen. Einer der Hausschuhe, welche er beim Gang durch das Schloss trug, ging verloren, der andere ist mit Wasser vollgesogen. Der Abstieg von den Überresten des Lawinenkegels, bei dem er mit seinem Häscher ins Haslital eingetreten ist, runter ins Tal war happig.
Das Gericht in Fünferbesetzung erwartet Pfau. Der Yeti bugsiert diesen auf den einzigen noch freien Stuhl im Gerichtssaal. Vorsitzender ist Muggestutz, einer der letzten Hasli-Zwerge. Links von diesem haben die Berggeistin Melchaa und einer der Geister vom Grimselpass Platz genommen. Rechts vom Gerichtspräsidenten sitzt ein Tatzelwurm, zu dem sich nun auch der Yeti setzt. Als Schreiber amtet die Eule Claucus. Als Ankläger schüttelt Steinadler Argutalix sein Gefieder. Muggestutz nickt ihm zu.
Argutalix räuspert sich krächzend und beginnt zu sprechen:
«Sehr geehrter Herr Gerichtspräsident, Hohes Gericht, Angeklagter. Ich verlese die Anklageschrift in der Strafsache Matthäus Pfau wegen ihm zur Last gelegten Verstössen gegen die Welt der Geister. Begangen im Nachgang zum Sonderbundskrieg von 1847.»
Er blickt um sich – und spricht weiter:
«Nachdem dieser innert kurzer Zeit glimpflich abgelaufen war und mit dem Sieg der liberalen und» – er schnupft verächtlich – «sogenannt fortschriftlichen Kantone über die konservativen endete, schienen die Sieger der eigenen Bevölkerung nicht ganz zu trauen. Ob diese in den ländlichen und abgelegenen Regionen wie dem Haslital so fortschrittlich sind, wie man es in den Städten gerne hätte? So begann man, mit Truppen aus anderen Kantonen – um keine Konflikte mit der eigenen Bevölkerung hervorzurufen – mit Säuberungen gegen alles, was sich nicht mit den drei Sinnen plausibel erklären liess.
Dies bedeutete das faktische Ende für die Geisterwelt im Haslital. Und dies unter Leitung von Oberstleutnant Matthäus Pfau, dem Kommandanten der aus dem Zürichbiet aufmarschierten Truppen. Die Melchaa, diese majestätische und anmutige Berggeistin vermochte sich zu retten, indem sie sich oberhalb der Engstlenalp in einen Bergbach verwandelte und fortan als solcher durch ehemals katholisch-konservative Lande nordwärts floss. Bis sie in dieser Causa als eine der Richter berufen wurde. Oder die Grimselgeister, von denen nur wenige wie Granitus» – er blickt zum schemenhaften Wesen am Richterpult – «das Massaker von Handeck überlebten und seither in den Grüften der Gelmerhörner hausen. Unter geisterunwürdigen Bedingungen. Nicht besser erging es den Yetis, welche vom Rosenlauigletscher in die fernen 8000er des Himalajas fliehen mussten. Schändlich endete es für die Tatzelwürmer und die Hasli-Zwerge. Erstere fristen heute ihr Dasein als Gebäcke einer Meiringer Bäckerei zur Betörung des menschlichen Gaumens, die Hasli-Zwerge als putzige Kobolde in Kinderbüchern.» Für die Staatsanwaltschaft ist der Tatbestand des Nano- und Etheralgenozids*) klar erfüllt. Sie beantragt eine entsprechend schwere Strafe.
Muggestutz bedankt sich für die Ausführungen und wendet sich Pfau zu:
«Was sagen Sie zu diesen Anschuldigungen?»
Pfau hat sich sichtlich erholt.
«Zu dieser Posse äussere ich mich nicht», sagt er verächtlich. «Ausser, ich habe nur gehorsam meine Pflicht als Soldat erfüllt. Soviel. Ohne Anwalt sage ich fortan nichts mehr.»
«Ihre Opfer hatten damals auch keine Anwälte», fährt ihm Staatsanwalt Argutalix rabiat über den Mund.
«Meine Herren, meine Herren», wendet sich Muggestutz an die Kontrahenten, behalten Sie die Contenance.»
Während sich im Amthaus zu Meiringen ein wüster Disput abzuspielen beginnt, herrscht auf Schloss Kyburg Alarmstimmung. Der Hausherr ist verschwunden. Von einer Minute auf die andere. Dessen Frau Amelie kann sich das Geschehen in keiner Weise erklären.
Im Wissen um die Prominenz des Vermissten hat sich Oberjäger Herrmann Ziegler als Kommandant des lokalen Gendarmeriepostens persönlich, zusammen mit seinem Gehilfen, Landjäger Wilhelm Vogelsang, auf die Pferde geschwungen und sind stracks zur Kyburg galoppiert. Schulterzuckend stehen sie nach dem ersten Augenschein da und müssen der weinenden Ehefrau erklären, dass die Indizienlage bescheiden sei und wenig auf ein Verbrechen hinweise. Einzig ein am Boden liegendes Gemälde, mit einem Riss in der Leinwand.
«Und das bei einem seiner Lieblingsbilder», seufzt Amelie, «unerklärlich.»
«Und nein, suizidal ist er gewiss nicht, dass er sich etwas angetan hätte», gibt sie Ziegler auf dessen Verlegenheitsfrage Antwort.
Vogelsang kratzt sich am Hinterkopf. Dieser Riss in der Leinwand lässt ihn nicht mehr los. Mit zackigem Gruss verabschiedet er sich.
Es ist schon einige Zeit her, dass er von den sogenannten «Weltenpforten» gelesen hat. Irgend «Tunnels», dank denen es möglich sein soll, zwischen weit voneinander entfernten, vielleicht sogar ineinander verwobenen Bereichen des Universums, Verbindungen herzustellen, ja möglichweise gar zwischen verschiedenen Zeitperioden. Gut, der Waldschratt aus dem Sihlwald, den der Autor als Referenz anführte, geniesst nicht gerade den besten Ruf. Aber für Vogelsang ist es klar. Dieser armen Frau muss geholfen werden, auch wenn es durch einen schrulligen Waldschratt ist.
Zu später Stunde kommt Vogelsang im Sihlwald an.
«Klar», sagt der Waldschratt, «das klingt logisch. Irgendwer oder -was hat den Pfau ins Haslital geholt, wo sich jetzt möglicherweise eine Tragödie abspielt.» Nach kurzem sinnieren fragt er: «Gell, Vogelsang heisst du.»
Der Landjäger nickt.
«Das ist ja wunderbar», grinst der Waldschratt. «2024, als etwa in sieben, acht Generationen, wird ein Markus Wüthrich – aber seine Mutter ist eine Vogelsang, ihr seid also irgendwie verwandt – Pilot bei der auf dem Flugplatz Meiringen stationierten Hubschrauberstaffel sein.»
«Pi-, Flu-, Hu-was», stottert Vogelsang fragend?
«Das kann ich dir ein andermal erklären», sagt der Waldschratt, «die Zeit drängt. Wir können deinem Verwandten eine Nachricht schreiben und von einem meiner «Schattenvögel» überbringen lassen.»
Landjäger Vogelsang nickt wortlos und blass.
Bald fliegt ein schauerlich kreischender Vogel durch den Sihlwald davon.
«Erhebt Euch», sagt Muggestutz zu Pfau: «Im Namen der Zwerge und Geister des Haslitals ergeht folgendes Urteil. Der Angeklagte Matthäus Pfau wird des Nano- und Etheralgenozids, begangen in der Zeit nach dem Sonderbundskrieg von 1847, zum Nachteil unzähliger Zwerge, Tatzelwürmer, Yetis und Berggeistern schuldig gesprochen. Das Strafmass lassen wir durch ein Götterurteil festgelegt. Durch einen Sturz in die Aareschlucht. Wie viele der Opfer, die damals auf ihrer Flucht über die Kirchetpasshöhe so zu Tode gekommen sind. Das Urteil ist rechtskräftig und sofort zu vollziehen.»
Die kleine Prozession stapft andächtigen Schrittes durch den Schnee dem Kirchetpass zu. Vorne weg Pfau, flankiert von Muggestutz und Yeti. Dahinter Berggeistin Melchaa, Granitus und der Tatzelwurm. Den Schluss bilden Argutalix und Schreiber Claucus. Am höchsten Punkt, wo die Aare gegen 100 Meter weiter unten durch die enge Schlucht braust, fordert Muggestutz Pfau auf, an den Rand zu treten und ein letztes Gebet zu sprechen. Da durchbricht dröhnender Lärm die Stille. Ein noch nie gesehenes Monster aus Eisen braust durch die Luft. Es packt Pfau an den Schultern und verschwindet Richtung Brünigpass.
«Alea iacta est», sagt Muggestutz.
«Die Würfel sind gefallen», repetieren die anderen im Chor, «die Götter haben gesprochen.»
Das Ungetüm sorgt auf seinem Flug in Richtung Winterthur für grosse Aufregung. Der Bundesrat trifft sich zu einer Krisensitzung, Armee, Zivilschutz und Feuerwehren werden mobilisiert. Überall läuten die Kirchenglocken und die Leute rennen in Kirchen und Kapellen. Das Ende der Welt befürchtend, scheint doch die in der Offenbarung des Johannes beschriebene «Heuschrecke aus dem Abgrund» erschienen zu sein.
Auf Schloss Kyburg herrscht Freude. Matthäus Pfau, arg zersaust aber glücklich, steigt aus dem gelandeten Helikopter und schliesst seine Frau in die Arme. Lachend winkt Pilot Markus Wüthrich aus dem Fenster: «Adieu, ich muss schauen, den Weg zurück ins 21. Jahrhundert zu finden, bevor mir das Kerosin ausgeht. Damit könnt ihr mir wohl weniger helfen.»
Begriffserklärung
*) «Nanozid»: Abgeleitet vom griechischen «νάνος»/«nanos» für Zwerg;
«Etherealgenozid»: «αιθέριος»/«aithérios» für das Unstoffliche/Geistige
und «zid» für Tötung.
Dies in Anlehnung an den Begriff «Genozid» für systematische Massenmorde und die Zerstörung ganzer Völker.
Geschrieben von: Hans Peter Flückiger
Webseite: https://geschichten-gegen-langeweile.com
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