Es war kurz vor Weihnachten und Sophie erfreute sich am ersten Schneefall. Auf dem Nachhauseweg hüpfte sie von einem Bein aufs andere, streckte die Zunge heraus, um möglichst viele Schneeflöckchen aufzufangen.
Als sie bei der grossen Brücke ankam, hörte sie ein leises Klatschen.
Sophie blieb stehen und sah sich um. Sie erblickte einen alten, etwas ungepflegten Mann mit langem Haar und einem Bart. Er trug eine zerrissene Hose und einen mit Löchern übersäten Mantel.
«Hallo, ich bin Sophie und wer bist du?», fragte sie den Mann gewundrig.
«Ich heisse Viktor», antwortete der Mann überrascht und reichte ihr zum Gruss die Hand.
Sie griff nach seinen klammen Fingern: «Du hast kalt. Warum gehst du nicht nach Hause?», wollte das Mädchen wissen und liess ihn nicht aus den Augen.
Viktor bückte sich zu ihr hinunter: «Schau, dort unter der Brücke ist mein Zuhause», dabei zeigte er zur Unterführung.
Sophie schaute angestrengt in die Richtung und entgegnete schliesslich: «Ich sehe bloss etwas Dunkles, was wie eine Decke aussieht und einen Einkaufswagen. Mama benützt einen solchen, wenn sie im Discounter einkauft.»
«Ja, ganz genau, dies ist mein Daheim.» Der Mann lächelte peinlich berührt und streichelte ihr verlegen über den Kopf.
«Hast du denn keine Familie?», bohrte sie weiter.
«Doch, schon», sagte Viktor traurig. «Aber sie wollen nicht, dass ich bei ihnen wohne.» Er senkte seinen Kopf.
«Die sind aber gemein!» Sophie stampfte energisch mit ihren roten Stiefeln auf den schneebedeckten Boden. «Ich finde, du bist nett», erwiderte sie und lächelte ihn an.
Kurz darauf verabschiedete sich Sophie und machte sich auf den Heimweg.
Sie begegneten sich zu Sophies Freude nun jeden Tag. Sobald sie ihren Freund erblickte, hob sie die Hand und winkte ihm freudig zu. Manchmal schenkte sie Viktor ihr Pausenbrot, das sie extra für ihn aufgespart hatte. Mit einem kleinen Lied bedankte er sich für das essbare Geschenk.
Weihnachten stand kurz bevor und es lag viel Schnee auf den Strassen.
Sophie gefiel es, mit Viktor Schneekugeln zu formen und einen Schneemann zu bauen. Dazu nahm Viktor seinen verbeulten Hut vom Kopf und setzte ihn auf die oberste Kugel. Die Arme erhielt der Schneemann von einem abgebrochenen Ast, welcher der Schneelast zum Opfer gefallen war. Viktor zog aus seiner Hosentasche, zwei wunderschöne, gesprenkelte Steine, die er kürzlich unten am Bach gefunden hatte. Sie hauchten dem weissen Schneemenschen etwas Leben ein. Viktor strahlte: «Wenn du morgen eine Karotte mitbringst, dann bekommt unser Schneekönig sogar noch eine Nase.»
Sophie lachte herzlich: «Die bring’ ich mit, versprochen.
Feierst du auch Weihnachten, Viktor?», dabei beobachtete sie ihn ganz genau.
Viktor schwieg. Sein Blick starrte ins Leere und seine Mundwinkel bebten leicht. Schliesslich sagte er betreten: «Ich treffe mich mit meinesgleichen. Wir werden uns Geschichten von früher erzählen, im Radio Musik hören und Weihnachtslieder mitsingen, wenn die alten Batterien so lange durchhalten. Vielleicht kommt Rosa, die Kioskfrau vorbei und bringt uns einen selbstgebackenen Kuchen mit. Das wäre schön.» Viktor seufzte tief. Sophie sah, wie er wässrige Augen bekam.
Beim Abendessen erzählte Sophie erstmals von ihrer speziellen Freundschaft, mit dem Mann, der ohne Familie unter der Brücke wohnte.
Die Mutter war alles andere als begeistert und machte sich grosse Sorgen, er könnte ihrer Tochter Böses antun. Der Vater sah dies entspannter. Er freute sich sogar darüber, dass Sophie diese Erfahrung machen durfte.
«Mama, Papa, ich möchte Viktor etwas zu Weihnachten schenken. Aber dazu brauche ich eure Hilfe.» Ohne die Reaktion abzuwarten, sprach sie weiter: «Auf dem Dachboden hängt ein dicker Mantel von meinem grossen Bruder Jonas. Den vermisst er bestimmt nicht und ich möchte ihn gerne Viktor schenken, denn seiner ist voller Löcher. In meinem Zimmer unter dem Bett habe ich in einer Schachtel die grosse, blaue Weihnachtskugel von Tante Lotti. Die möchte ich ihm auch gerne schenken.»
«Oh ja, das ist eine sehr gute Idee, mein Kind», entgegnete die Mutter. «Ich habe heute Nachmittag Tannzweige gekauft. Nimm einen davon und dekoriere den Ast noch mit ein paar Weihnachtskerzen. Der Mann wird sich bestimmt freuen.»
«Ich habe noch einen Wunsch: Die Batterien in seinem kleinen Radio sind bald leer. Ich möchte ihm gerne neue schenken, damit er mit seinen Freunden die Weihnachtslieder, die im Radio gespielt werden, mitsingen kann. Viktor hat eine so schöne Stimme. Sein Gerät sieht fast wie meines aus.» Sophie hatte die Arme verschränkt und wippte mit dem Oberkörper sanft hin und her, während sie auf die Reaktion ihrer Eltern wartete.
«Dies ist wirklich ein sinnvolles Geschenk», entgegnete der Vater zufrieden.
Am Nachmittag vor Heiligabend packte Sophie die Geschenke in eine grosse Tasche und begab sich zu ihrem Freund.
Viktor sass zusammengekauert in seinem Schlafsack, denn es war bitterkalt. Als er das Mädchen erblickte, schälte er sich geschwind aus seiner Hülle.
Sophie hatte inzwischen die Brücke erreicht. «Hallo Viktor, hier, das ist für dich», begrüsste sie ihn voller Stolz und streckte ihm den schön dekorierten Zweig entgegen.
«Diesen geschmückten Ast schenke ich dir, damit du auch ein bisschen Weihnachtsstimmung hast.»
Viktor schaute auf das Gesteck mit den vier roten Kerzen und der blauen Kugel mittendrin, dabei kullerten ihm ein paar Tränen der Rührung die Wangen herunter.
«Dieser Mantel soll dich vor Kälte schützen und die Batterien dabei helfen, dass du mit deinen Freunden die Weihnachtslieder im Radio mitsingen kannst.» Sophie lächelte.
«In der Manteltasche hat es eine Überraschung von meinen Papa».
Viktor horchte auf, dann griff er vorsichtig hinein. Freudentränen kullerten über sein vor Kälte gerötetes Gesicht, als er die Schokolade und das Schnapsfläschchen erblickte. «Lass deine Eltern von mir grüssen und für die grosse Überraschung freundlich danken. Liebe Sophie, dies ist mein schönstes Weihnachtsfest», dabei umarmte er das Mädchen herzlich. «Aber jetzt musst du nach Hause, süsse Maus, sonst erfrierst du noch.»
«Mach’ ich, Viktor.» Fröhlich sprang Sophie davon und winkte ihm zu, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte.
Geschrieben von: Marianna Vogt
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