Rosalias Bildnis | von Gina Nicoletti

Rosalias Bildnis | von Gina Nicoletti

31 October 2024Heike Felber

Das Bild war düster. Es zeigte eine verängstigte Frau in einem dunklen Raum, einem Kerker gleich, welcher sich im Hintergrund in der Schwärze verlor. Sie blickte dem Betrachter flehend entgegen. Angst und Verzweiflung lag in ihren Augen. Die Hände nach vorne gestreckt, als berühre sie ein Hindernis, das weder der Betrachter, noch sie zu sehen vermochten. Wo befand sich diese Frau? Wenn es ein Kerker war, wäre sie verdreckt und man würde sie in Lumpen gekleidet wähnen. Doch die Frau in dem Bild war ausserordentlich hübsch und gepflegt. Ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert und hochgesteckt. Sie trug ein altmodisches, aber edles Abendkleid in violettem Ton mit schwarzer Spitze.

"Rosalia! Da sind Sie! Wir haben Sie bereits vermisst."

Rosalia fuhr zusammen als sie den Ruf ihres Namens vernahm. Sie war so sehr in die Betrachtung des Bildes versunken, dass sie gar nicht mehr auf die Umgebung geachtet hatte. Sie sah sich im Raum nach der Person um, die nach ihr gerufen hatte. Es war ihr Cousin Alois. Eilig kam er auf sie zu. Seine flammend roten Haare konnten die Verwandtschaft zu ihr nicht verbergen. "Was hält Sie auf, sich zu uns zu gesellen?" fragte er.

"Die Bilder. Sind wir nicht deshalb hierher gereist, um sie zu betrachten?"

"In der Tat. Jedoch haben wir die Besichtigung bereits vor Zeiten beendet. Der Hausherr hat uns zu einem Gläschen Wein eingeladen. Dabei dürfen Sie nicht fehlen. Was hält Sie derart lange auf?"

"Dieses Bild. Es fasziniert mich und ängstigt mich zugleich."

"Fürchterlich! So düster! Wer malt solch grässliches Zeug!"

"Wenn Sie erlauben der junge Herr, dass ich mich vorstelle, mein Name ist Théodore Mollet. Und ich fürchte, Sie betrachten mein Werk." Die Stimme gehörte einem alten gebrechlichen Mann.

"Sie haben dieses Bild gemalt?" fragte Rosalia.

"Sozusagen."

"Es fasziniert mich zutiefst. Ist es erlaubt, Fragen dazu zu stellen?"

"Selbstverständlich. Es ist mir immer eine Ehre, Bewunderer zu begegnen."

Rosalia wies auf das Bild und fragte: "Wer ist die Dame auf dem Bild? Wo ist sie und warum fürchtet sie sich?"

Der Alte grinste und bleckte dabei eine unansehnliche Zahnreihe. "Das Bild hat den Namen <Gefangen im Spiegel>. Die Frau im Gemälde war einst eine Gräfin. Sehr hübsch, aber nur auf ihr Äusseres fixiert. Sie stand vor einem Spiegel, als ein Hexer sie darin bannte."

"Warum hat er das gemacht?" fragte Rosalia.

"Weil er es konnte."

"Wie grausam. Sie sieht so real aus. So lebendig."

"Das liegt daran, dass sie noch lebendig ist. Sie lebt im Bild weiter. Wenn Sie genau hinsehen, können Sie sie blinzeln sehen."

Rosalia beugte sich vor und tatsächlich, sie glaubte eine leichte Bewegung erfasst zu haben. Erschrocken fuhr sie zurück und schlug entsetzt ihre Hände vor den Mund.

Mollet lachte laut auf.

"Das ist genug!" sagte Alois und zog Rosalia in seine Arme. "Es ist nicht nett, einer Dame solche Schauergeschichten zu erzählen. Kommen Sie Rosalia, wir gehen zu den anderen. Sie können eine Stärkung gebrauchen."

Der alte Herr verbeugte sich, noch immer lachend, als Rosalia und Alois sich entfernten.

In dieser Nacht schlief Rosalia kaum. Immerzu musste sie an die Frau im Gemälde denken und an das, was der alte Maler gesagt hatte. Wollte er ihr tatsächlich nur ein Schauermärchen erzählen, um sie zu ängstigen? Gerne hätte sie mehr über diese Gräfin erfahren. Gab es sie wirklich? Lebte sie noch? Rosalia hatte sich heute Abend kaum getraut in den Spiegel zu blicken, aus Angst ihr könnte das gleiche Schicksal widerfahren. Wie lächerlich! Sie versuchte sich mit den Worten des Gastgebers, Oberstleutnant Pfau, zu beruhigen. Das seien nur gehässige Worte eines mittelmässigen Künstlers. Sie solle lieber jene Gemälde, welche entzückende Landschaften und Blumenbuketts darstellten, betrachten. Bei jenen sei die Gefahr einer Begegnung mit dem Künstler gering. Ausser man treffe ihn später im Jenseits. Der Cognac und die Worte hatten sie vorerst beruhigt, doch seit sie alleine in diesem grossen Zimmer im Schloss war, nur wenige Gehminuten von diesem schrecklichen Bild entfernt, kroch die Angst zurück in ihre Glieder und brachte sie um den Schlaf.

Am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, suchte Rosalia das Bild in der Galerie ein weiteres Mal auf. Eigensinnig suchte sie nach einem Grund, sich nicht davor zu ängstigen. Sie musste sich geirrt haben, als sie eine Bewegung wahrnahm. Doch bevor sie sich der Betrachtung widmen konnte, begrüsste sie der Maler Mollet. "Guten Morgen, Mademoiselle. Wie ich sehe, sind sie erneut hier vor diesem Bild. Es tut mir leid, dass ich Sie gestern mit meiner Geschichte erschreckt habe. Ich weiss selbst nicht, was über mich gekommen war. Bitte tun Sie es als Dummheit eines alten Greises ab, welcher nur die Aufmerksamkeit einer entzückenden Dame, wie Sie es sind, erwecken wollte."

"Das ist Ihnen fürwahr gelungen", erwiderte Rosalia kalt.

"Können Sie mir verzeihen? Wie wäre es mit einem Friedensangebot? Ich porträtiere Sie."

"So wie diese Frau?" Rosalia wich vor ihm zurück.

"Oh non Mademoiselle, wo denken Sie hin!" Der Maler schüttelte vehement den Kopf. "Eine Mademoiselle, wie Sie würde ich am liebsten in der Natur malen. An einen Baum gelehnt oder in einer Blumenwiese."

Rosalia betrachtete den Maler nachdenklich. Sie hatte bereits Bildnisse von sich, aber keines schien ihr gerecht. Das Bild der Gräfin ist beängstigend, doch die Dame auf dem Bild war beeindruckend porträtiert. Daher antwortete sie: "In einer Blumenwiese würde es mir gefallen."

"Bon. Würde es Ihnen heute Nachmittag passen? Auf der Wiese im Loo?"

Ihre Cousins würden am Nachmittag mit Pferden die Umgebung erkunden. Statt die Zeit mit Handarbeiten todzuschlagen, konnte sie sich genauso gut malen lassen, überlegte Rosalia. "Sehr gerne. Ich werde nach dem Mittagessen dort sein."

"Es wird mir eine Ehre sein. Au revoir." Der alte Maler verneigte sich und ging.

Rosalia pflückte ein paar Blumen und setzte sich auf den niedrigen Hocker in die Blumenwiese, welcher Mollet für sie bereitgestellt hatte. Der alte Maler drapierte ihr Kleid und wies sie an: "Nun nehmen Sie bitte eine bequeme Haltung ein, die sie lange halten können. Sie könnten zum Beispiel an den Blumen in ihrer Hand riechen und zu mir blicken. Parfait! Bitte die Position halten."

Rosalia liebte es in der Natur zu sein. Sie genoss es, die Wärme der Sonne auf sich zu spüren, den Duft der Wiese einzuatmen und dem regen Treiben der Schmetterlinge und Bienen zuzusehen.

Irgendwann fiel ihr auf, dass sie immer weniger Hintergrundgeräusche vernahm. Das Rauschen der Töss verklang. Das Summen der Insekten verstummte. Sogar die leichte Brise, welche die Gräser zum Rascheln brachte, war verschwunden. Bildete Rosalia sich diese Stille nur ein, da sie bereits lange in der gleichen Position verharrte?

Vorsichtig hob sie ein wenig den Blick, sah sich um und erschrak. Sie erkannte ihre Gegend nicht wieder. Der Wald, welcher die Wiese einfasste, war verschwunden, sowie das Schloss, das Dorf, sogar jeder Hügel, Berg und - der Maler. Sie war allein auf einer Wiese, deren Ende sie nicht erblicken konnte.

Einer toten Wiese, wie sie feststellte. Kein Lebewesen befand sich mehr darin. Weder Biene, noch Schmetterling, noch Ameise. Sogar der Geruch war ihr abhanden gekommen. Moment, das stimmte nicht. Die Wiese roch, doch anders als gewohnt. Sie zupfte an einem Grashalm. Er war feucht und schmierig. Ungläubig betrachtete sie ihre Finger. Sie waren grün und rochen nach Ölfarbe. Sie schrie. Doch kein Ton drang aus ihrer Kehle. Sie versuchte aufzustehen, aber es ging nicht! Das musste ein Traum sein. Sie musste beim Modellsitzen eingenickt sein. Sicherlich würde sie bald aufwachen.

Plötzlich verdunkelte sich das Gewölbe und ein riesiges Gesicht erschien über allem. Es war ein Jüngling. Aber - diese Augen kannte sie! Es waren die Augen des alten Malers Mollet.

Er sprach: "Ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählt, als Sie gefragt haben, warum der Hexer die Frau gefangen genommen hatte. Er tut es, um ihr Lebenselixier zu bekommen. Wie Sie sehen, hat es ein weiteres Mal funktioniert. Eure Lebenskraft gab mir meine Jugend zurück. Dafür werden Sie Ihre Zukunft in diesem Gemälde fristen. Ihre Welt beschränkt sich auf das, was ich gemalt habe. Jetzt können Sie sich noch etwas bewegen, doch ist die Farbe trocken, sind nur minimalste Bewegungen möglich. Ich werde Ihr Bild zu den anderen in die Schlossgalerie bringen. Es ist hübsch geworden. Wie schade, dass Sie es nicht mehr als Ganzes sehen. Au revoir, Mademoiselle."

Rosalia streckte ihre Hände flehend dem Gesicht entgegen, doch es verschwand. Sie merkte, dass sie die Hände nicht mehr bewegen konnte. Ihre Haut war spröde geworden und bekam die Struktur einer Leinwand. Sie öffnete ihren Mund zu einem verzweifelten, tonlosen Schrei und erstarrte.

Während am Abend Rosalias Namen in und um das Schloss Kyburg gerufen wurde, war das Kunstmuseum um ein Gemälde reicher. Es zeigte eine junge Frau mit flammend roten Haaren auf einer reich blühenden Wiese. Sie hatte die Arme dem Betrachter entgegengestreckt. In ihren Augen spiegelte sich das blanke Entsetzen.

Ende

Geschrieben von: Gina Nicoletti

plus d'articles

Commentaires (0)

Il n'y a pas de commentaires pour cet article. Soyez le premier à laisser un message !

Écrire un commentaire