„Geht’s noch!?“ Lisa erschrak. Hatte sie das gerade laut gesagt? Offensichtlich war das der Fall, denn die Frau, die ein Stück den Gang runter gerade ins Gestell griff, schaute missbilligend zu Lisa. Dann sah sie Lisas Blick auf die Auslage vor ihr, nickte ihr verstehend zu, und eilte mit ihren Einkäufen davon. Lisa wandte ihren Kopf wieder dem Gegenstand ihrer Empörung zu. Sie stand im Supermarkt, um sich ihr Mittagessen zu kaufen. Draussen spielten Kinder in kurzen Hosen Ball, und im hohen Gestell vor ihr stapelten sich Dutzende von Schachteln mit Weihnachtskugeln. Es war der sechzehnte Oktober.
Lisa hatte sich daran gewöhnt, dass in den Supermärkten jahrein jahraus wochenlange Verkaufsschlachten aufeinander folgten: Die Dreikönigskuchen gingen nahtlos über in die Fasnachtsküchlein, diese in die Valentinstagschokoherzen, Osterhasen, Muttertags-Pralinen. Dann folgten die Grillwurstwochen, Nationalfeiertagsfeuerwerk-Wochen, Einschulungsartikel-Wochen. Damit es nicht zu lange wurde bis zum Advents-, Weihnachts- und Silvesterverkauf, hatte man vor einigen Jahren noch die Halloween-Wochen eingeführt. Lisa hatte sich damit abgefunden. Ihr war klar, dass die Unternehmen aus den Bräuchen und Sentimentalitäten der Leute Geld machen wollten. Doch die Geschäftemacherei mit Weihnachten stiess ihr jedes Jahr bitter auf.
Die folgenden Wochen vergingen für Lisa wie im Flug, ihr Tagesablauf war minutiös durchorganisiert und das schloss auch die Wochenenden ein. Die Weihnachtsauslagen im Supermarkt nahm sie kaum mehr war. So viel war noch zu tun bis Ende Jahr, vor allem bei der Arbeit! „Was wünscht du dir zu Weihnachten?“ Die Frage von Tom, ihrem Lebenspartner, riss sie aus ihren Gedanken. Erstaunt schaute sie auf. Sie waren beim Abendessen und Lisa hatte nicht bemerkt, dass Tom sie seit einiger Zeit anschaute. „Wir schenken uns doch nichts zu Weihnachten, das weiss du doch“, antwortete sie barsch. Seine linke Augenbraue zog sich in die Höhe. „Ich spreche nicht von einem Geschenk, ich möchte wissen, welchen Wunsch du hast“, sagte er sanft. Seit sie damals vor Weihnachten ein Paar geworden waren, hatte jeder von ihnen zum ersten Advent einen Wunsch getan, der sich am Heiligabend erfüllen sollte. Lisa fühlte sich ertappt. Ein verstohlener Blick auf den Kalender bestätigte: Heute war der erste Advent! Sie schaute Tom an, in Erwartung eines missbilligenden Gesichtsausdrucks. Doch er lächelte und stellte seine Frage erneut, als wäre nichts gewesen. „Ich weiss es nicht“, entgegnete Lisa leise, denn sie hatte sich noch keine Gedanken gemacht. Wie hatte sie das vergessen können! Sie fühlte sich ganz elend. Doch dann platzte es aus ihr heraus: „Ich wünsche mir das Weihnachten meiner Kindheit zurück: die Vorfreude spüren, Nachmittage lang Kekse backen, auf dem Markt einen riesigen Tannenbaum aussuchen, den Baum mit dem Schmuck vom Dachboden verschönern, gemeinsam ein Festessen kochen, in die Mitternachtsmesse gehen.“ Bevor Tom etwas sagen konnte, fügte Lisa hinzu: „Ja, ich weiss, mein Weihnachten früher hiess auch unliebsame Geschenke, verkrampftes Weihnachtsmusizieren, angestrengtes Zusammensein mit den lieben Verwandten. Davon spreche ich nicht. Ich wünsche mir ein Weihnachten wie es auf den Glückwunschkarten steht: ruhig, besinnlich, gesegnet. Die Weihnachtszeit wird jedes Jahr belastender, aufreibender und lärmiger. Ja, vor allem lärmiger. Ich hasse das!“ Lisa war vor Aufregung aufgestanden. Den letzten Satz schrie sie beinahe, dann begann sie zu weinen und konnte auch in Toms Umarmung lange nicht aufhören.
In den Wochen bis zum Heiligabend hatte Lisa gemischte Gefühle. Tom hatte ihren Gefühlsausbruch erstaunlich gelassen genommen, Verständnis gezeigt und dann nicht mehr darüber gesprochen. Für ihn schien die Sache erledigt zu sein. Lisa war darüber erleichtert, doch sie hatte Tom nicht nach seinem Weihnachtswunsch gefragt. Das erste Mal nach über zwanzig Jahren. Mit jedem Tag, an dem sie die Frage nicht stellte, fühlte sie sich mieser. Doch Tom schien sie nicht zu erwarten. Lisa entspannte sich darauf und hatte den Vorfall im Alltagstrubel bald vergessen. Die Vorweihnachtszeit war im Unternehmen, wo sie arbeitete, die anstrengendste im Jahr und sie verbrachte viele Stunden dort. Zuhause hatten Tom und sie keine Zeit füreinander, sie besprachen nur das Nötigste. Jeden Abend fiel Lisa todmüde ins Bett.
Dann war der Heiligabend da. Bei der Arbeit erledigte Lisa die letzten Aufträge, zeigte sich dort pflichtbewusst kurz an der Weihnachtsfeier, und hastete dann nach Hause. Tom hatte ihr am Vorabend versichert, er würde alles für Heiligabend organisieren, da er nicht arbeiten musste. Lisa freute sich schon darauf, dass er wie jedes Jahr etwas Leckeres im Schmortopf zubereiten und den Tisch festlich schmücken würde. Doch als sie die Wohnung betrat, war diese dunkel und kein Tom da. War etwas passiert? Besorgt machte sie Licht und schaute herum. Kein Tom. Doch da sah sie eine Spur aus Lametta, die zum ungedeckten Esstisch führte. An ein Weinglas gelehnt waren ein Billett und eine Karte: ‚Vertrau mir und benutze das Billett. Dein Zug geht um 17 Uhr.‘
Eine halbe Stunde später lehnte Lisa ihr erhitztes Gesicht gegen die kalte Scheibe des Zugfensters. Es regnete in Strömen. Sie war zum Bahnhof gehastet, um den Zug zu kriegen, und hatte in der Eile ihre Handtasche vergessen. Mit Billett, aber ohne Geld, sass sie nun im Zug in die Berge. Wenigstens hatte sie daran gedacht, sich warm anzuziehen und beim Verlassen der Wohnung noch nach ihrem kuscheligen Schal zu greifen. Sie war aufgeregt, mit welcher Überraschung Tom sie erwarten würde. Als der Zug nach zwei Stunden endlich in den kleinen Bergbahnhof einfuhr, sprang Lisa ungeduldig auf und drängte zum Ausgang. Auf dem Perron stand Tom, dessen Augen bei ihrem Anblick aufleuchteten. „Ich wusste, dies würde ein Abenteuer nach deinem Geschmack sein und deine Neugier würde dich zu mir bringen“, meinte er amüsiert, als Lisa ihm um den Hals fiel. „Ich habe uns ein gemütliches Chalet gemietet, wo wir die Weihnachtsfeiertage verbringen werden. Ruhig, besinnlich, gesegnet – wie es dein Wunsch war“. Lisa vergrub gerührt ihre Nase in seinem flauschigen Jackenkragen, doch dann schreckte sie hoch. Sie wollte diesen wunderbaren Moment nicht kaputt machen, doch sie musste Tom unbedingt etwas fragen: „Ja aber, was ist denn mit deinem Weihnachtswunsch?“ Er lächelte und fasste ihre Hand. Während die ersten Schneeflocken fielen, hörte Lisa ihn sagen: „Mein Wunsch hat sich soeben erfüllt – du bist wieder ganz bei mir.“
Geschrieben von: Manuela Klemenz
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