Es geschah in einer Vollmondnacht | von Marianna Vogt

Es geschah in einer Vollmondnacht | von Marianna Vogt

October 31, 2024Heike Felber

Der kleinwüchsige Ragnar schälte in der Schlossküche der Kyburg Kartoffeln für das Abendmahl. Er war der Untertan des Schlossherrn Oberstleutnant Ulrich von Wagner. Eine Delegation aus dem Kanton Zürich war angemeldet, um die immense Gemäldesammlung des Schlossherrn zu bewundern. Einen Eimer voll Erdäpfel hatte Ragnar bereits fertig geschält und den zweiten Bottich auch schon zur Hälfte verarbeitet. Magd Margarete sass ihm gegenüber und rupfte währenddessen ein Huhn. Dabei schielte sie zu Ragnar hinüber und fragte entsetzt: «Ragnar, was hast du wieder für krumme Sachen gemacht? Die Spuren der Folter sind noch deutlich an deinen Armen zu erkennen.»
«Ach Margarete, du kennst Wagner. Er geniesst es, wenn er mich, den kleinwüchsigen Ragnar, zum Wasserholen verdonnern kann. Nur mit grösster Anstrengung kann ich das grosse Rad am Brunnen bedienen und den mit Wasser gefüllten Kessel nach oben ziehen. Kürzlich hatte ich deswegen eine solche Wut, dass ich ihm eine Portion Schnecken vom Grab des Polnischen Grafen Saboski ins Bett gelegt habe. Für diese Tat sperrte er mich einen Tag lang in die Folterkammer. Ich kassierte zwanzig Peitschenhiebe, einen für jede Schnecke. Aber all diese Schmerzen ertrug ich tapfer.»
Margarete, die aufmerksam Ragnars Worten gelauscht hatte, lächelte zaghaft: «Bravo Ragnar. Hoffentlich hat er sich so richtig erschrocken, dieses Scheusal von Mensch. Mich quält er auch immer, indem er mich beauftragt, halbtote Hühner zu rupfen und zu kochen. Er weiss genau, wie gross meine Tierliebe ist und dass ich kein Fleisch esse. Am liebsten würde ich ihm auch ein Leid antun.» Margarete erschrak ob ihren Worten und hielt sich die Hand vor den Mund.

«Margarete?»

«Ja, Ragnar?»
«Wärst du bereit mit mir zusammenzuspannen? Ich möchte, dass sich der Wagner so richtig grausig fürchtet. Für diese Tat bin ich bereit, erneut Peitschenhiebe in Kauf zu nehmen.»
«Was verlangst du von mir, Ragnar?»

«Dass du mich bei meinem Vorhaben unterstützt und mich warnst, wenn Wagner ins Waffenzimmer kommt. Sobald er dann im Saal ist, musst du geschwind die Schnecken auf der Treppe, die zur Gerichtsstube führt, verteilen. Diese werde ich bei Einbruch der Dunkelheit in einem Einer unter der Stiege deponieren!»
«Und wie soll das gehen, ohne dass er es mitbekommt? Das ist doch so ein durchtriebener Lump, der merkt doch alles.»

«Du putzt an diesem besagten Abend ausnahmsweise die Treppe und wenn Wagner in deiner Nähe ist und Richtung Waffenzimmer läuft, bekommst du einen Hustenanfall.»
«Aber … was willst du denn im Waffenzimmer? Doch nicht etwa …» Margarete wurde ganz blass.
«Nein, nein, nicht was du denkst, Margarete. Ich verrate dir meinen Plan nicht. Du wirst es sehen, wenn es soweit ist.»
Margarete kniff die Augen zusammen und dachte über Ragnars Plan nach. Schliesslich antwortete sie: «Gut, ich werde bei deiner Freveltat deine Komplizin sein, Ragnar. Ich hoffe bloss, dass alles gut geht.»
«Keine Sorge, Margarete, auf mich ist Verlass. In drei Tagen ist Vollmond und Wagner wird wieder eine schlaflose und diesmal hoffentlich auch eine unvergessliche Vollmondnacht erleben. Sei pünktlich um neun Uhr bei der Treppe und hilf mir bei meinem Vorhaben.»

«Ja, Ragnar, das werde ich tun.»

Während der letzten Tage hatte es viel geregnet. Das  ‘Schnägge-Gärtli’ war überhäuft mit Mollusken. Beim Eindunkeln der Vollmondnacht ging Ragnar an den besagten Ort. Beim Anblick der vielen Schnecken, rieb er sich vor Freude die Hände. Zuerst füllte er den Eimer, dann sammelte er noch weitere Tiere, die er in seine mitgebrachte Ledertasche steckte. Dies sollte seinem Vorhaben im Waffensaal dienlich sein. Als er fertig war, schlich er ins Schloss zurück. Den Eimer deponierte er, wie mit Margarete vereinbart, unter der ersten Stiege. Mit der Tasche ging er ins Waffenzimmer. Ganz vorsichtig öffnete er die Tür zur ‘Eisernen Jungfrau’. Beim Anblick des Folterwerkzeugs lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Schnell spiesste Ragnar an jeden Nagel eine Schnecke. Dann versteckte er sich hinter einer Ritterrüstung und wartete. Als er Margarete kommen hörte, streckte er den Kopf aus der Tür des Waffenzimmers heraus und nickte ihr wohlwollend zu. Danach ging alles sehr schnell. Ragnar leerte das Hühnerblut, welches Margarete ihm beim letzten Küchendiensteinsatz in einem Becher untergejubelt hatte, auf den Boden. Anschliessend duckte er sich und kroch so behutsam in die ‘Eiserne Jungfrau’ damit er sich an den Dornen nicht verletzte. Die Kleinwüchsigkeit half Ragnar bei diesem Vorhaben, denn er fand unterhalb der Spitzen noch genügend Platz zum Sitzen. Just in dem Moment, als Ragnar die Tür der Statue etwas zuzog, hörte er Margarete husten.
«Nanu, Margarete, was machen Sie um diese Zeit noch hier?» Der Oberstleutnant schaute verdutzt auf seine Uhr. «Gehen Sie in Ihre Kammer. Die Treppe können Sie auch morgen noch sauber machen», dabei zeigte er mit der ausgestreckten Hand zum Ausgang. Er wunderte sich und betrat etwas verwirrt das Waffenzimmer.
«Ach du lieber Gott!» Ulrich von Wagner schüttelte den Kopf und sah entsetzt auf den Boden. «Woher kommt dieses Blut und wer hat die Tür zur ‘Eisernen Jungfrau’ einen Spalt offen gelassen? Oberstleutnant Ulrich von Wagner stellte sich vor das Folterinstrument. Zögernd öffnete er die Tür und erblickte die aufgespiessten Schnecken. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und wurde leichenblass. Dann machte er einen Schritt rückwärts und fiel beinahe über seine eigenen Füsse. In diesem Moment verübte Ragnar ein Mordsgeschrei. Seine Stimme überschlug sich in den Wänden der ‘Eisernen Jungfrau’ und der Oberstleutnant erschrak zu Tode. Er wollte schreien, aber seine Stimme versagte. So schnell er konnte, rannte Ulrich von Wagner aus dem Saal und die Treppe hinunter. In der Eile rutschte er auf den von Margarete ausgelegten Schnecken aus und stürzte die Stufen hinunter. Wehklagend sass er am Boden und hielt seinen schmerzenden Kopf. Ragnar kroch zwischenzeitlich sachte aus der ‘Eisernen Jungfrau’ heraus und rannte Wagner hinterher. Dieser war jedoch bereits wieder aufgestanden und in sein Gemach geflüchtet.

Seit diesem schrecklichen Ereignis, verliess Oberstleutnant Ulrich von Wagner in Vollmondnächten nie mehr seine Kammer um umherzuwandeln. Er unterliess es zudem, Ragnar zu bestrafen, denn er fürchtete sich von seinen weiteren möglichen Schreckenstaten.

Geschrieben von: Marianna Vogt

Instagram: @mary_switzerland

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