Menschenkenntnis | von Tobias Bonderer

Menschenkenntnis | von Tobias Bonderer

October 31, 2024Heike Felber

Kommissar Sebastian Stolz musste an ein Brauereipferd denken. Er folgte der Haushälterin durch einen der langen Flure von Schloss Kyburg. Während sie schnaufend vor ihm her walzte, wogte ihr beträchtlicher Hintern unter dem schwarzen Stoff der Dienstkleidung hin und her.

Stolz war gespannt auf Oberstleutnant Pfau. In der Stadt kursierten diverse Geschichten über den Mann. Der Witwer lebte seit sechs Jahren allein mit seinem Personal auf der Kyburg. Allerdings wurde gemunkelt, dass seine Frau nicht unter der Erde, sondern höchst lebendig an der Côte d’Azur bei einem reichen Franzosen weile.

Weiter hiess es, Pfau sei beim Kauf der Burg gehörig über den Tisch gezogen worden. Nach dem ersten Gewitter kam zudem heraus, dass das gesamte Dach saniert werden musste. Seit dieser Episode nannten ihn die Leute hinter vorgehaltener Hand General Pechvogel.

Noch wildere Geschichten als über den Oberstleutnant, rankten sich um dessen Gemäldesammlung. Man sagte ihr nach, Bilder eines unbekannten Malers aus dem Balkan zu beherbergen, die einem das Blut in den Adern gefrieren liessen. Gerüchten zufolge verdankte der Burgherr seinen Wohlstand nicht nur einer üppigen Erbschaft, sondern auch dem Handel mit diesen verruchten Gemälden.

«Warten sie hier!», sagte die Haushälterin, als sie vor einer aufwändig verzierten Tür ankamen, klopfte kurz und verschwand im Zimmer. Als sie wieder erschien, raunte sie: «Der Herr Oberstleutnant empfängt sie gleich. Er ist noch einen Moment beschäftigt. Sie dürfen schon hineingehen, aber warten sie bei der Tür, bis er Zeit für sie hat.» Als sie knickste, überlegte Stolz kurz, ob er ihr zum Dank einen Würfelzucker auf der offenen Hand hinhalten sollte. Lächelnd trat er ein.

Der Raum war eine Überraschung. Man hatte die Wände des Saals vom Putz befreit und vor den grob behauenen Steinquadern des Gemäuers schwebten kunstvoll gerahmte Gemälde an langem Zwirn. Auf dem Boden lagen Perserteppiche und von der Decke hingen Kronleuchter. Offensichtlich hatte General Pechvogel nach dem überteuerten Kauf der Burg und der Sanierung des Daches über genügend Mittel verfügt, um sich diesen Saal herrichten zu lassen. Als der Kommissar eintrat, drehten sich am anderen Ende des Raumes drei Personen zu ihm um. Ein Mann in Uniform, wahrscheinlich der Oberstleutnant und ein Paar, vermutlich verheiratet. Er nickte einen kurzen Gruss und wandte sich dann ab. Stolz war kein Kunstkenner. Er unterschied Malerei in «gefällt mir» und «gefällt mir nicht». So gehörte denn das Bild neben der Tür, ein Segelboot, in die erste, das nächste Gemälde, ein düsteres Ölbild, auf dem jemand einen Teller mit Früchten gemalt hatte, in die zweite Kategorie. Ihm war schleierhaft, wie man für sowas Geld ausgeben konnte. 

Das dritte Bild zeigte zwei Kinder auf einer Waldlichtung. Das Grün der Bäume wirkte so echt, dass Stolz beinahe das sanfte Rauschen der Blätter zu hören glaubte. Durch die Baumkronen fielen die Sonnenstrahlen wie warmes Gold auf die Szenerie. Das Büblein kniete im saftig grünen Gras, das Mädchen mit einem Häubchen stand hinter ihm, die zarte Hand auf der Schulter ihres Bruders. Beide wandten ihre Gesichter dem Betrachter zu. Es war der Ausdruck der Kinder, welcher dem Kommissar tatsächlich den Atem stocken liess. Die Angst in den kleinen Augen, die zum Schrei geweiteten Lippen, die Finger des Mädchens, die sich in das Hemd des Jungen krallten.

«Gefällt es ihnen?» Stolz fuhr herum. Er hatte sich dermassen in diesem Bild verloren, dass er den Oberstleutnant nicht hatte kommen hören. Die anderen Besucher schienen gegangen zu sein. Der uniformierte Mann lächelte freundlich und hielt ihm die Hand entgegen. «Oberstleutnant Pfau.» «Angenehm», Stolz musste sich räuspern, «Kommissar Stolz, Stadtpolizei Winterthur.» Pfaus Händedruck fiel überraschend kraftlos aus. Sein ergrautes Haar war schütter, die Augen von einem blassen Blau. Allein der gewachste Schnurrbart mit den gezwirbelten Enden hatte etwas Zackiges. «Und?», fragte er.

Stolz hob fragend die Augenbrauen. Der Schlossherr lächelte und zeigte hinter den Kommissar. «Das Bild, gefällt es ihnen?»

«Ach so», sagte dieser. «Nein. Ich finde es schrecklich. Es ist …» Er suchte nach Worten.

«Beängstigend?», fragte Pfau immer noch lächelnd. «Ja, es ist in der Tat furchteinflössend, nicht?» Er blickte auf das Bild. «Der Horror in den Augen der Kinder im Angesicht des nahen Todes. Der Betrachter sieht sich unmittelbar in die Perspektive des Täters versetzt, wird selbst zu dem Grauen, welches die Kinder gleich ereilen wird. Die Diskrepanz von Harmonie und Terror verleiht dem Werk eine unglaubliche Spannkraft und politische Tiefe.»

Stolz ging nicht auf das alberne Kunstgeschwafel ein. Er hatte weder vor, dem Pechvogelgeneral Honig ums Maul zu schmieren, noch sich von seinem gestelzten Gerede beeindrucken zu lassen. «Ist das eines der Bilder von diesem Kerl aus dem Balkan?», fragte er.

 «Ungarn», stellte der Oberstleutnant richtig. «Unfassbar, wie dieser Mann es vermag, Angst so realistisch auf die Leinwand zu bannen.»

«Geschenkt.» Stolz liess den Blick über die Bilder schweifen.

«Nur zu», Pfau wies mit einer einladenden Handbewegung in den Raum. Der Kommissar zögerte. Doch dann packte ihn eine makabere Neugier und er fing an umherzugehen. Er erkannte schnell, dass die Bilder des Ungarn immer demselben Muster folgten. Ein harmonischer, fast kitschiger Hintergrund im Kontrast zu Schmerz und Todesangst. Ein Erfrierender in einer glitzernden Schneelandschaft, eine Frau auf einer Blumenwiese, die mit angstverzerrtem Gesicht in den Himmel starrte.

Oberstleutnant Pfau zeigte auf Letzteres und meinte, dass er dieses soeben verkauft hatte. «Und was kostet so ein … Werk?» Stolz gab sich Mühe, den Worten so viel Geringschätzung wie möglich zu geben. Der Schlossherr lächelte süffisant. «Ich fürchte, die Beträge dürften sich ihrer Gehaltsklasse entziehen.»

Der Kommissar sparte sich eine Entgegnung. Zeit, zur Sache zu kommen. «Ich nehme nicht an, dass sie mich der Kunst wegen hergebeten haben, Herr Oberstleutnant. Worum geht es?» Auch Pfau hatte aufgehört zu lächeln. Nüchtern sagte er: «Ich will einen Diebstahl melden.»

«Was ist gestohlen worden?», fragte Stolz und deutete auf die Bilder. «Eines von denen da?»

«Geld», sagte der Uniformierte, «Zudem fehlt seit zwei Tagen jede Spur von Greta Fässler, meiner jüngsten Hausangestellten.»

«Wieviel wurde gestohlen? Und wo wurde es entwendet?»

Der Oberstleutnant zuckte nicht mit der Wimper, als er dem Kommissar antwortete.

Dieser traute seinen Ohren nicht. «Achtzehntausend Franken? Sie hat ihnen achtzehntausend Franken aus der Schreibtischschublade gestohlen? Sie bewahren so viel Geld in ihrem Schreibtisch?»

Pfau blieb ruhig. «Eine Reserve für alle Fälle. Ich traue den Bankiers nicht. Allesamt Halunken. Überdies ist nicht gesagt, dass tatsächlich Frau Fässler den Betrag entwendet hat. Normalerweise bürge ich für meine Angestellten. Ich bin stolz auf meine Menschenkenntnis. Zudem sind sowohl Arbeitszimmer als auch Schreibtisch stets abgeschlossen.»

«Die Schlüssel?»

General Pechvogel sah kurz zu Boden. «Ich fürchte, die sind auch weg.»

«Wie Greta Fässler.»

«Wie Greta Fässler.»

Es entstand eine kurze Pause. Stolz konnte es nicht fassen. Achtzehntausend Franken in der Schreibtischschublade. Wie naiv konnte einer sein? «Wir werden tun, was wir können. Falls es Frau Fässler war, besteht die Chance, dass wir sie und das Geld bald wieder finden. Darf ich das Arbeitszimmer sehen?»

Während Oberstleutnant Pfau dem Kommissar sein Büro zeigte, beteuerte er weiter, dass seiner Menschenkenntnis nach Frau Fässler nicht wie eine Diebin gewirkt habe. Stolz konnte keine Details entdecken, die für die Aufklärung des Diebstahls relevant gewesen wären. Er verabschiedete sich und kündigte an, dass morgen jemand vorbeikommen und die Aussagen der Belegschaft aufnehmen werde.

Der Pferdehintern wartete am Ausgang mit seinen Sachen auf ihn. Stolz nahm den Hut, liess sich in den Mantel helfen und ging zur wartenden Kutsche. Bevor er einstieg, sah er noch einmal an dem wuchtigen Bauwerk hoch. Von der Ehefrau verlassen, vom Vorgänger über den Tisch gezogen und vom Dienstmädchen bestohlen. Der Kommissar schüttelte den Kopf. Hervorragende Menschenkenntnis, keine Frage. Er würde die Frau zur Fahndung ausschreiben und den Fall an das Landeskriminalamt weitergeben. Sollten die doch zusehen, dass General Pechvogel wieder zu seinem Geld kam. Er musste sich eingestehen, dass er sich sogar ein klein wenig wünschte, Greta Fässler würde mit ihrer Beute die Flucht ins Ausland und in ein neues Leben gelingen.

Oberstleutnant Matthäus Pfau stand am Fenster seines Arbeitszimmers und schaute der Kutsche des Polizisten hinterher. Einmal mehr war er stolz auf seine Fertigkeit, Menschen einzuschätzen. Er entzündete eine Laterne und machte sich auf den Weg in den Keller. Dieser wackere Prolet von Kommissar würde den Diebstahl halbherzig behandeln, um ihn dann im Sande verlaufen zu lassen. Der Fall wäre noch vor Jahresende ad acta gelegt und vergessen.

Er schloss eine unscheinbare Tür auf und trat in den dunkeln Raum dahinter. Die Laterne beleuchtete eine Staffelei samt Leinwand. Als er die Karbidlampen an den Wänden entzündete wich die Dunkelheit einem grellen Arbeitslicht und gab den Blick auf einen riesigen Glaskasten frei. Er hatte die Grösse eines Kleiderschranks und wirkte äusserst massiv. Greta Fässler sass, nur mit einem Nachthemd bekleidet auf dem Boden des gläsernen Käfigs. Durch die Löcher im Deckel des Kastens war ihr leises Wimmern zu hören. Der Oberstleutnant legte einen Hebel im hinteren Teil des Raumes um, ging zur Staffelei, griff sich einen Pinsel und betrachtete den idyllischen See auf der Leinwand. «Dann wollen wir mal», sagte er, als es kurz gurgelte und durch ein Rohr in der Decke das Wasser in den Glaskasten zu fliessen begann.

Geschrieben von: Tobias Bonderer

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Kommentare (2)

  • Bravo Manuela, bravo allen zusammen
    Sehr spannend geschrieben. Die Kyburg hat bei mir allerdings massiv an Sympathie verloren. Brrrr…

    Karin Rutschmann
  • Lieber Tobias
    Deine Kurzgeschichte gefällt mir sehr gut. Freut mich zu sehen und zu lesen, wie Du am Schreiben dranbleibst. Ich wünsche Dir eine gute Vorweihnachtszeit und weiterhin viel Freude beim Schreiben.
    Herzliche Grüsse, Reto

    Reto Müller

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