Liebes Tagebuch
Heute Morgen war es wirklich knapp. Vater hätte mich beinahe erwischt und nur Gott weiss, was mich dann erwartet hätte. Zum Glück hatte ich eine gute Ausrede.
Wenn Peter oder Martin bei einem Seich erwischt werden, holt Vater nach dem Znacht seinen Gürtel hervor. Rosalie, meine beste Freundin, meinte, bei mir würde Vater das nicht machen. Der Gürtel gäbe wüste Striemen und Vater wolle mich ja bestimmt rein und fehlerfrei verheiraten. Nur gut hat mich Vater heute nicht erwischt.
Aber ich glaube Mutter ahnt etwas. Beim Zmittag hat sie mich so seltsam angeschaut. Während dem Beten haben sich unsere Blicke gekreuzt und ihre Augen schienen mir etwas sagen zu wollen. Rosalie meinte, das würde ich mir nur einbilden. Das sei nur immer noch die Aufregung vom Morgen, weil es so knapp gewesen war. Rosalie weiss immer alles. Das ist manchmal anstrengend.
Um Reto bei der Arbeit zuzuschauen, bin ich früher aufgestanden. Wie jeden Morgen seit er bei uns knechtet, schlich ich mich ganz leise in den Stall und versteckte mich auf dem Heustock. Bis jetzt hat mich noch nie jemand gesehen.
Wenn Reto unsere Kühe melkt, trägt er nie ein Leibli und ich schaue mir seinen Rücken so gerne an. Mit den Kühen ist er sehr lieb. Er streicht ihnen sanft über das Fell und redet mit ihnen. Leider vestehe ich ihn nicht, weil er so leise spricht. Ob er das mit den Mädchen, von denen er seinen Freunden erzählt, auch so macht?Letzte Woche musste ich für Vater Zigaretten holen. Da habe ich Reto mit einigen Burschen beim Biertrinken gesehen. Er hat mir zugenickt, aber nichts gesagt. Ich konnte auch nichts sagen. Dazu war ich viel zu aufgeregt. Wahrscheinlich bin ich rot angelaufen wie die Tomaten in unserem Garten.
Als ich dann auf den Wirt gewartet habe, der mir die Zigaretten von hinten holte, hat Reto vor den anderen angegeben. „Marlis küsst so gut, da krieg sogar ich weiche Knie.“
Eigentlich wollte ich das gar nicht hören. Marlis ist an der gleichen Schule wie Rosalie und ich und jetzt muss ich immer daran denken, wie sie Reto küsst. Dieses Bild mag ich nicht.
Aber nochmal zu heute Morgen. Vater kam in dem Moment in den Stall, als ich mir noch das letzte Strau vom Kleid strich. Ich hab an Vaters Augen gesehen, dass er überrascht war mich bereits so früh im Stall zu sehen. Ich erklärte ihm ganz schnell, dass unser Tigerli doch erst grad gejüngelt hat und ich nur nach den Kleinen sehen wollte.
Vater scheuchte mich dann sofort zu Mutter in die Küche. Ich soll gefälligst beim Zmorgen richten helfen. Ich glaube also nicht, dass er weiss, warum ich eigentlich im Stall war. Aber ab morgen muss ich noch besser aufpassen. Ich will Reto ja noch weiter beim Knechten zuschauen. Wenigstens das. Mit ihm zu reden, getraue ich mich nicht.
Geschrieben von: Annina Manser
Instagramm: https://www.instagram.com/annina_schreibt/
Kommentare (1)
Es isch früähner de Mensche im Herze glich gange wiä hüt 🤭😂😂🤭